Installationsansicht “Die unhintergehbare Verflechtung aller Leben”, Kunsthalle Düsseldorf, 2023.
Foto: Katja Illner

Keltie Ferris / Ilse Henin / Hayv Kahraman / Gisela McDaniel / Soraya Sharghi / Emma Talbot

Die späten 1960er-Jahre waren in Westdeutschland eine bedeutsame Zeit der politischen und sozialen Unruhen, der künstlerischen Solidarität und des Experimentierens, oft verbunden mit antikapitalistischer Kritik. Für Ilse Henin, die in jenen Jahren studierte, war es eine prägende Zeit. In den späten 1970er-Jahren nahm sie jedoch eine Auszeit von der Kunst, da sie diese – wie viele ihrer Kolleginnen – als zu stark von Männern dominiert empfand, kehrte in den 1980er-Jahren wieder zur künstlerischen Arbeit zurück und wahrte dabei einen bewussten Abstand von der Kunstwelt. Es erschien ihr dabei stets notwendig, innerhalb der Gesellschaft eine künstlerische wie auch soziale Gegenkultur zu schaffen und aus der Position der Außenseiterin heraus kontinuierlich ein Werk zu entwickeln, das auf sehr persönliche Weise ihr Abbild der Gesellschaft zeigt und eine psycho-analytische Sicht auf unterschiedliche kulturelle Ausprägungen vornimmt.

Von den Werken Ilse Henins ausgehend, wird in der Ausstellung ein Netz zu den fünf jüngeren, zeitgenössischen Positionen geflochten. Die Arbeiten von Keltie Ferris (* 1977 in Louisville/USA), Ilse Henin (* 1944 in Köln/DE), Hayv Kahraman (* 1981 in Bagdad/IRQ), Gisela McDaniel (* 1995 in Nebraska/USA), Soraya Sharghi (* 1988 in Teheran/IRN) und Emma Talbot (* 1969 in London) eint die Verflechtung von vermeintlich klassischen, als weiblich gelesenen Motiven, sie alle haben sie jedoch zu völlig unterschiedlichen Sujets weiterentwickelt.
„Das Weibliche“ als Motiv wird in einen zeitgenössischen Kontext gerückt. Die Frau ist nicht mehr schönes Beiwerk oder Projektionsfläche des male gaze, sondern Hauptfigur und Identitätsträgerin des Werks. Frauen, als Einzelfiguren, in Gruppen oder als Teil einer Familie oder eines Volksstamms, stehen für sich selbst ein und für alle, die sie repräsentieren. Sie sind starke, selbstbestimmte und sich ihrer Position bewusste Heroinnen einer neuen Erzählung von Femininität. Gleichzeitig werden klassische Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit hinterfragt.
Auch bisweilen als „weiblich“ oder „feminin“ gelesene Materialien und Techniken, wie Stoff, Perlen, Garn bzw. Nähen, Sticken, Collage, werden aufgegriffen und in einen zeitgenössischen Zusammenhang gesetzt. Diese, lange Zeit als Kunsthandwerk oder Dekoratives degradierten, Ästhetiken werden laut und überbordend und mit expressiver und impulsiver Farbigkeit in geradezu poppiger Weise genutzt.

Die Werke der sechs Künstler*innen zeigen somit eine Prozessualität auf, die die Betrachter*innen aus den 1960er-Jahren bis heute, von Malerei, über Zeichnung zu Skulptur und Installation, von Feminität über Maskulinität zu Diversität führt. Vor allem ist es aber ein Prozess zur Stärkung, zum Empowerment. In den Werken selbst, aber auch in ihrer Zusammenstellung bilden sich Gruppen, Zusammenschlüsse und Prozesse, die, trotz ihrer Unterschiedlichkeit, zahlreiche Parallelen erkennen lassen. Sie zeigen den Kampf für Gerechtigkeit und Selbstbestimmung, der jüngst in der feministischen Revolution im Iran mündete, den Künstler*innen seit langer Zeit und auch noch bis heute in einer noch immer cis-männlich dominierten (Kunst-)Welt regelmäßig führen müssen.

Der Titel der Ausstellung Die unhintergehbare Verflechtung aller Leben bezieht sich auf ein Interview von The Collective Eye mit Judith Butler aus dem KUNSTFORUM International, Band 285, in dem Judith Butler die Notwendigkeit kollektiven Zusammenlebens für Gerechtigkeit in der Gesellschaft hervorhebt. Davon ausgehend ist Gesellschaft als komplexes Netzwerk verschiedenster Akteur*innen, nicht nur Menschen, sondern auch nicht-menschlicher Lebensformen, also Tiere, Pflanzen, Pilze und Organismen, zu verstehen. Es besteht der Wunsch nach einer neuen Kollektivität dieser Gesellschaft, nach der Verknüpfung eines ganzen Ökosystems, das sich gegenseitig beeinflusst, bedingt, aber auch beschützt.

Die Ausstellung Die unhintergehbare Verflechtung aller Leben stellt sich in eine Reihe von Untersuchungen des Körperlichen und seiner Bedeutung für das Menschsein, denen die Kunsthalle Düsseldorf sich seit mehreren Jahren immer wieder widmet.

Zur Ausstellung ist eine deutsch- und englischsprachige Publikation erschienen. Sie finden sie hier.
Die Ausstellung wird kuratiert von Gregor Jansen und Alicia Holthausen.
Eröffnung: 23. Juni 2023

Bilder

Emma TalbotGhost Calls, 2020Acryl auf Seide, 295 × 1385 cm© Emma Talbot, Courtesy Galerie Onrust, AmsterdamFoto: Katja Illner

Emma Talbot
Ghost Calls, 2020
Acryl auf Seide, 295 × 1385 cm
© Emma Talbot, Courtesy Galerie Onrust, Amsterdam
Foto: Katja Illner

Emma TalbotWeeping Willow, 2020 Mischtechnik 265 × 202 × 160 cmInstallationsansicht Ausstellung Ghost Calls, DCA DundeeCourtesy Galerie Petra Rinck

Emma Talbot
Weeping Willow, 2020
Mischtechnik
265 × 202 × 160 cm
Installationsansicht Ausstellung Ghost Calls, DCA Dundee
Courtesy Galerie Petra Rinck

InstallationsansichtIlse HeninOhne Titel, 2018/2019Ölkreide auf Papier, 100 × 70 cmCourtesy die Künstlerin und KM, BerlinFoto: Katja Illner

Installationsansicht
Ilse Henin
Ohne Titel, 2018/2019
Ölkreide auf Papier, 100 × 70 cm
Courtesy die Künstlerin und KM, Berlin
Foto: Katja Illner

Eine Zeichnung der Künstlerin Ilse Henin, die in zarten Strichen das Profil eines Gesichts andeutet

Ilse Henin
Ohne Titel (2), 2019
Ölkreide auf Papier
100 × 70 cm
© KM, Berlin, 2019
Foto: Sebastian Mayer

InstallationsansichtKunsthalle DüsseldorfKeltie Ferris“Chorus”, 2019–2022Öl, pulverisiertes Pigment und Vinylfarbe auf Papier, je ca. 104 × 74 cmCourtesy: Kadel Willborn, Düsseldorf & KLEMM’S, BerlinFoto: Katja Illner

Installationsansicht
Kunsthalle Düsseldorf
Keltie Ferris
“Chorus”, 2019–2022
Öl, pulverisiertes Pigment und Vinylfarbe auf Papier, je ca. 104 × 74 cm
Courtesy: Kadel Willborn, Düsseldorf & KLEMM’S, Berlin
Foto: Katja Illner

Buntes ornamentales Bild mit tanzenden Nymphen und ein Frau mit Einhorn auf dem Kopf in der Mitte

Soraya Sharghi
Rising with the song of nymphs, 2022
Acryl auf Leinwand
152.4 × 236.22 cm
©Soraya Sharghi
Courtesy of the artist & SETAREH

v.l.n.rInstallationsansichtFoto Katja IllnerGisela McDanielPaola’an Míhinilat, 2021Öl auf Leinwand, gefundenes Objekt, Schmuck der abgebildeten Person, Harz, Sound, 165,1 × 152,4 × 40,6 cmGisela McDanielHaga Haga’, 2020Öl auf Leinwand, gefundenes Objekt, Harz, Sound auf USB, 106,7 × 136,7 × 14 cm

v.l.n.r
Installationsansicht
Foto Katja Illner

Gisela McDaniel
Paola’an Míhinilat, 2021
Öl auf Leinwand, gefundenes Objekt, Schmuck der abgebildeten Person, Harz, Sound, 165,1 × 152,4 × 40,6 cm

Gisela McDaniel
Haga Haga’, 2020
Öl auf Leinwand, gefundenes Objekt, Harz, Sound auf USB, 106,7 × 136,7 × 14 cm

Die pinken Schemen eines menschlichen Torsos

Kelti Ferris
I spy, 2022
Öl, Pigmentpulver und Vinyl, Farbe auf Papier
104,1 × 74,9 cm
Courtesy Kadel Willborn

Installationsansicht Soraya SharghiFoto: Katja Illnerlinks:Roaring Trumpet, 2020Holz, 200 × 135 × 105 cm Courtesy die Künstlerinund SETAREHRechts:Stream of infinity, 2022Acryl auf Leinwand, 137,16 × 137,16 cmCourtesy die Künstlerin und SETAREH

Installationsansicht
Soraya Sharghi
Foto: Katja Illner

links:
Roaring Trumpet, 2020
Holz, 200 × 135 × 105 cm
Courtesy die Künstlerinund SETAREH

Rechts:
Stream of infinity, 2022
Acryl auf Leinwand, 137,16 × 137,16 cm
Courtesy die Künstlerin und SETAREH

Frau auf einem Bett liegen von bunten Stoffen und üppigen Pflanzen umgeben

Gisela McDaniel
Tiningo’ si Sirena, 2021
Öl auf Leinwand, gefundene Objekte, Schmuck, Ton
114.3 × 152.4 × 14 cm
© Gisela McDaniel
Courtesy the artist and Pilar Corrias, London

Hayv KahramanFold, 2020Öl auf Holz, 190,5 × 114,3 cmFoto: Katja Illner

Hayv Kahraman
Fold, 2020
Öl auf Holz, 190,5 × 114,3 cm
Foto: Katja Illner

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