Die späten 1960er-Jahre waren in Westdeutschland eine bedeutsame Zeit der politischen und sozialen Unruhen, der künstlerischen Solidarität und des Experimentierens, oft verbunden mit antikapitalistischer Kritik. Für Ilse Henin, die in jenen Jahren studierte, war es eine prägende Zeit. In den späten 1970er-Jahren nahm sie jedoch eine Auszeit von der Kunst, da sie diese – wie viele ihrer Kolleginnen – als zu stark von Männern dominiert empfand, kehrte in den 1980er-Jahren wieder zur künstlerischen Arbeit zurück und wahrte dabei einen bewussten Abstand von der Kunstwelt. Es erschien ihr dabei stets notwendig, innerhalb der Gesellschaft eine künstlerische wie auch soziale Gegenkultur zu schaffen und aus der Position der Außenseiterin heraus kontinuierlich ein Werk zu entwickeln, das auf sehr persönliche Weise ihr Abbild der Gesellschaft zeigt und eine psycho-analytische Sicht auf unterschiedliche kulturelle Ausprägungen vornimmt.
Von den Werken Ilse Henins ausgehend, wird in der Ausstellung ein Netz zu den fünf jüngeren, zeitgenössischen Positionen geflochten. Die Arbeiten von Keltie Ferris (* 1977 in Louisville/USA), Ilse Henin (* 1944 in Köln/DE), Hayv Kahraman (* 1981 in Bagdad/IRQ), Gisela McDaniel (* 1995 in Nebraska/USA), Soraya Sharghi (* 1988 in Teheran/IRN) und Emma Talbot (* 1969 in London) eint die Verflechtung von vermeintlich klassischen, als weiblich gelesenen Motiven, sie alle haben sie jedoch zu völlig unterschiedlichen Sujets weiterentwickelt.
„Das Weibliche“ als Motiv wird in einen zeitgenössischen Kontext gerückt. Die Frau ist nicht mehr schönes Beiwerk oder Projektionsfläche des male gaze, sondern Hauptfigur und Identitätsträgerin des Werks. Frauen, als Einzelfiguren, in Gruppen oder als Teil einer Familie oder eines Volksstamms, stehen für sich selbst ein und für alle, die sie repräsentieren. Sie sind starke, selbstbestimmte und sich ihrer Position bewusste Heroinnen einer neuen Erzählung von Femininität. Gleichzeitig werden klassische Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit hinterfragt.
Auch bisweilen als „weiblich“ oder „feminin“ gelesene Materialien und Techniken, wie Stoff, Perlen, Garn bzw. Nähen, Sticken, Collage, werden aufgegriffen und in einen zeitgenössischen Zusammenhang gesetzt. Diese, lange Zeit als Kunsthandwerk oder Dekoratives degradierten, Ästhetiken werden laut und überbordend und mit expressiver und impulsiver Farbigkeit in geradezu poppiger Weise genutzt.
Die Werke der sechs Künstler*innen zeigen somit eine Prozessualität auf, die die Betrachter*innen aus den 1960er-Jahren bis heute, von Malerei, über Zeichnung zu Skulptur und Installation, von Feminität über Maskulinität zu Diversität führt. Vor allem ist es aber ein Prozess zur Stärkung, zum Empowerment. In den Werken selbst, aber auch in ihrer Zusammenstellung bilden sich Gruppen, Zusammenschlüsse und Prozesse, die, trotz ihrer Unterschiedlichkeit, zahlreiche Parallelen erkennen lassen. Sie zeigen den Kampf für Gerechtigkeit und Selbstbestimmung, der jüngst in der feministischen Revolution im Iran mündete, den Künstler*innen seit langer Zeit und auch noch bis heute in einer noch immer cis-männlich dominierten (Kunst-)Welt regelmäßig führen müssen.
Der Titel der Ausstellung Die unhintergehbare Verflechtung aller Leben bezieht sich auf ein Interview von The Collective Eye mit Judith Butler aus dem KUNSTFORUM International, Band 285, in dem Judith Butler die Notwendigkeit kollektiven Zusammenlebens für Gerechtigkeit in der Gesellschaft hervorhebt. Davon ausgehend ist Gesellschaft als komplexes Netzwerk verschiedenster Akteur*innen, nicht nur Menschen, sondern auch nicht-menschlicher Lebensformen, also Tiere, Pflanzen, Pilze und Organismen, zu verstehen. Es besteht der Wunsch nach einer neuen Kollektivität dieser Gesellschaft, nach der Verknüpfung eines ganzen Ökosystems, das sich gegenseitig beeinflusst, bedingt, aber auch beschützt.
Die Ausstellung Die unhintergehbare Verflechtung aller Leben stellt sich in eine Reihe von Untersuchungen des Körperlichen und seiner Bedeutung für das Menschsein, denen die Kunsthalle Düsseldorf sich seit mehreren Jahren immer wieder widmet.
Zur Ausstellung ist eine deutsch- und englischsprachige Publikation erschienen. Sie finden sie hier.
Die Ausstellung wird kuratiert von Gregor Jansen und Alicia Holthausen.
Eröffnung: 23. Juni 2023
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