Die Frage nach dem Raum

Die Frage nach dem Raum

„Wir müssen neu lernen, den Raum zu denken“ – Marc Augé 1

Wie beeinflussen Körper und Bewegung die spezifische Raumkonstitution? Wie verändert sich die Wahrnehmung eines Raumes bei ortsspezifischen Kunstwerken, die sich explizit mit diesem auseinandersetzen, sich ihm annähern und auf ihn einwirken?

Seit Jahrhunderten ist Raum ein Konzept, das in den unterschiedlichsten Disziplinen untersucht wird. Theorien zu ihm gibt es dabei nicht nur in den Geisteswissenschaften und der Architektur – auch etwa in der Biologie, Soziologie und Rechtswissenschaft wird zu Raum geforscht. Demzufolge lässt sich eine große Fülle an Raumtheorien finden, die verschiedenste Faktoren mit einbeziehen. Simpel zusammengefasst lässt sich Raum zunächst als ein abstraktes Konzept lesen, eine modellhafte Vorstellung, die dadurch natürlich auch Künstler*innen unzählige Handlungs- und Experimentiermöglichkeiten bietet. Unter anderem schwingt eben auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kunst und Raum mit. Im spatial turn („räumliche Wende“) der 1980er-Jahre veränderte sich, angeregt durch den französischen Poststrukturalisten Michel Foucault, das Raumverständnis. In den Vordergrund rückte der Zusammenhang zwischen Raum, Macht und Kultur, der eine neue Wahrnehmung mit sich brachte.2

Wenn wir uns die Arbeit negotiating space von Jennifer Pint anschauen, müssen wir im selben Atemzug den Raum, um den es geht, der neu verhandelt werden will, betrachten. Denn dieser ist weit von einem herkömmlichen Kunst-Ort, vom White Cube, entfernt. Das Parkhaus hat eine spezifische Funktion; es ist ein Ort, der eindeutig nicht zum Verweilen einlädt, einer, in den wir einkehren, um uns ganz woanders hinzubewegen, und lässt sich damit als Nicht-Ort gemäß Augé charakterisieren. Ihm sind Körper und Bewegung eingeschrieben, erst durch sie erhält das Parkhaus seine Relevanz. Denn was wäre ein Parkhaus ohne Menschen, die kommen und gehen? Nach Foucault kann das Parkhaus auch als heterotoper Raum betrachtet werden.3

Die Installation negotiating space widmet sich der Frage nach dem Raum, dem Zusammenhang von Raum und Mensch, aber auch dem Erleben des spezifischen Raumes, der hier untersucht wird.
Im Mittelpunkt der Arbeit steht ein skulpturales Element, das sich wie eine Welle, ausgehend von der linken oberen Ecke der Wand und dabei den Boden streifend, bis nach rechts oben ausdehnt und damit Decke, Wand und Boden des Parkhauses miteinander verbindet. Die Welle scheint aus der Wand herauszukommen, den Raum vorsichtig abzutasten, um dann langsam wieder in der Wand zu verschwinden.
Diese Welle wird durch weitere filigrane Objekte ergänzt. Nahe daran, direkt an der Wand platziert, eine kleine Keramik, grünlich-blaue, ausfasernde Flecken in unterschiedlicher Größe und Intensität, auf weißem Untergrund. Sie lässt mich an den Blick durch ein Mikroskop auf Zellformationen, die Makroaufnahme eines Schimmelbefalls, ein Ausschnitt des Lebens auf der Wand, denken. Zahlreiche Spinnen, die die Wand des Parkhauses bevölkern, unterstreichen diese Gedanken.
Lassen wir den Blick weiter schweifen, sehen wir kleine, weiße Körper aus Gips, die über ein Rohr an der Decke wandern und den kleinen Zwischenraum scheinbar ausdehnen (sind sie wohl dafür verantwortlich, dass es sich durchbiegt?).
Hinzu kommen sowohl am Übergang zur Decke als auch an der Schwelle zum Boden befindliche, geschwungene und mit Gips umhüllte Drahtobjekte, die auf den ersten Blick auch ein vorher schon existierendes Kabel sein könnten. Bei intensiverer Betrachtung der Gesamtinstallation fällt das tatsächliche Stromkabel auf, das sich aus der linken oberen Ecke der Wand herauszuschlängeln scheint. Die Drahtobjekte spiegeln dieses, kommunizieren mit ihm und ahmen es fast spielerisch nach, stellen dabei zugleich die reale, rohe Wand, die mur brut, infrage. Andererseits lenken die Objekte, die eben nicht direkt auf der Wand platziert sind, sondern vielmehr um sie herum, die Blicke hin zu den, ja, schmuddeligen Ecken, die sonst niemals näher betrachtet, geschweige denn ins Zentrum gerückt würden: Löcher in der Decke, Spinnennetze, Stromkabel, kleine Unebenheiten.

Die Installation als Gesamtkunstwerk wie auch die einzelnen Elemente von negotiating space erwecken eine Vielzahl an Assoziationen. Die filigranen Objekte stellen den Raum infrage und erfahren ihn zugleich. Sie eröffnen durch ihre ganz eigene, individuelle Beschaffenheit einen großen Interpretationsspielraum. Beginnend bei der Welle, die als zentrale Skulptur der Arbeit auch den ersten Blick auf sich zieht, stellt sich bei mir sofort der Gedanke an (Schleim-)Haut ein. Die rosa Oberfläche der Welle ist uneben, erhält durch die Ummantelung mit Wachs einen fleischigen, organischen Charakter. Es könnte sich auch um den Teil eines Darmes oder gar eine Nabelschnur handeln, Teil von etwas Lebendigem. Die unterschiedlichen Bestandteile der Arbeit bedingen sich gegenseitig und beeinflussen dadurch auch die einhergehenden Assoziationen.
So haben auch die kleinen weißen Gipskörper etwas Lebendiges an sich, im ersten Moment erinnerten sie mich an eine kleine Vogelfamilie auf einem Strommast, während sich die Assoziation nach längerer Betrachtung und der Entdeckung weiterer Gipskörper an unterschiedlichen Stellen, auf oder in der Nähe der Wand, langsam in Richtung Außerirdischer à la Stranger Things bewegte. Eine Wand, die zum Leben erwacht und zur Erforschung der sie umgebenen Räumlichkeit kleine Teilchen ausspuckt, die den Raum abtasten und erkunden. Im selben Atemzug lässt sich die Welle als Organ dieser lebendigen Wand identifizieren, als Teil der Gedärme des Parkhauses womöglich? Dadurch erhält der Raum, der sonst allein durch die Menschen in Bewegung gerät, vitalen Charakter. Denn was Organe hat, muss zweifelsohne lebendig sein!

Doch was hat nun die Installation mit dem Zusammenhang zwischen Körper und Raum zu tun? Der Körper macht den Raum erst erfahrbar und so erfährt ihn jede*r auf die eigene Weise. Durch ihre Installation negotiating space lässt uns Jennifer Pint an ihrer Raumerfahrung im Parkhaus teilhaben. Die unauffälligen Stellen hebt sie hervor, erweckt sie zum Leben mittels neuer, reduzierter Körper. Sie fügen sich ein und werden spielerisch Teil des Raumes, lassen zugleich vielfältige Assoziationen zu. Diese Dynamik wird verstärkt durch die an der Installation vorbeifahrenden Autos.
negotiating space geht auf den Raum ein, untersucht ihn, ohne sich ihm aufzuzwingen. Sie wird ein Teil dessen und erweckt ihn zum Leben. Er wird also insofern neu verhandelt, dass er, während ihm herkömmlicherweise nur die ein- und auskehrenden Menschen Leben einhauchen, zwölf Wochen lang lebendig ist. Vielleicht weckt die Arbeit auch eine neue Aufmerksamkeit für das bewusste Erkunden von Transit-Orten wie dem Parkhaus. Eins steht fest: Man muss sich darauf einlassen. Die Installation ruft dazu auf, innezuhalten und die Umgebung, die Räumlichkeit, die Materialität des Raumes, welche erst Arbeit hervorbringt, in dem spezifischen Moment wahrzunehmen.

1 Augé, Marc: Nicht-Orte. München: C.H.Beck oHG. 2010. S. 43.
2 Wulff, Hans Jürgen: spatial turn. Lexikon der Filmbegriffe, https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/s:spatialturn-6162.
3 Heterotopien, auch sogenannte „andere Räume“, haben immer eine doppelte Funktion. Sie sind einer klaren Ordnung unterworfen, die der Unordnung der restlichen Welt entgegensteht, und räumlich von ihr abgegrenzt. (Wulff, Hans Jürgen: Heterotopie. Lexikon der Filmbegriffe, https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/h:heterotopie-6620.)